Nachschau - 16. Internationaler Sicherheitspolitischer Kongress  in Karlsruhe

Verband der Reservisten

der Deutschen Bundeswehr e.V.

Landesgruppe Baden-Württemberg

Gesellschaft für Wehr- und

Sicherheitspolitik

Landesbereich Baden-Württemberg

16. Internationaler

Sicherheitspolitischer Kongress

20. / 21. November 2009 in Karlsruhe

Politische Entscheidungen 2009

- neue Herausforderungen -

 

Vortrag und Diskussion

Die Streitkräfte

zwischen Wunschdenken und politischer Realität

von Hans - Jürgen Maurus / SWR-ARD-HSB

Es gilt das gesprochene Wort

Meine Damen und Herren, die Militärs haben gesprochen, es folgt ein Zivilist, noch dazu einer aus der Medienzunft. Da Journalisten ähnlich schlechte Umfragewerte wie Politiker erzielen, weiß ich, worauf ich mich einlasse. Und wie mutig General Kopp ist, mich einzuladen. Denn ich gelte als ein Beobachter, der nicht lange um den heißen Brei redet. Und wenn jetzt die eine oder andere Bemerkung ihr Missfallen erregen sollte, erlauben Sie mir die Bitte: Ich bin nur der Botschafter, der die Depesche überbringt. Beziehungsweise die Medienperspektive aus der Sicht des politischen Beobachters in der Bundeshauptstadt. Ich möchte ein paar Fragen aufwerfen, die einer Antwort bedürfen, ob man es will oder nicht.

Ich will mit zwei kleinen Anekdoten beginnen:

Im vergangenen August stürmten Taliban in der Provinz Kunduz nachts eine lokale Polizeistation und erschossen den jüngeren Bruder des Gouverneurs. Seither macht der Gouverneur die Bundeswehr für den Tod des Bruders verantwortlich; weil die Deutschen keinen Hubschrauber geschickt hätten, als der Schwerverletzte verblutete. Er habe angerufen und man habe ihm gesagt, dass man eine solche Mission nicht machen könne, wird Mohammed Omar im Wall Street Journal Anfang der Woche zitiert, doch die Deutschen gehen nachts nicht gerne raus. Von deutscher Seite hieß es, man habe nicht mehr tun können, um den Mann zu retten. Das Opfer sei eines von mehreren Komplikationen in einer schwierigen Mission.

Zweite Anekdote spielt in Berlin. Nicholas Kulish, ein Reporter der New York Times schrieb am Montag in einem Artikel mit der Schlagzeile: Deutschlands Soldaten kämpfen alleine: „Ich habe oft am Berliner Hauptbahnhof die einsame Gestalt eines deutschen Soldaten in Uniform gesehen. Niemand hielt an, um ihm für seinen Einsatz zu danken oder ihn zu fragen, ob er schon in Afghanistan war. In Kunduz erzählt ein deutscher Soldat dem US Reporter, dass er auf einer Zugreise nach Berlin auf einem Bahnhof von Mitreisenden angemacht wurde, er solle sich unsichtbar machen, sonst würde er verprügelt. „Das hat mich schockiert“, sagt der Bundeswehrangehörige, „man schaut auf uns runter“. Der Wehrbeauftragte des Bundestags Reinhold Robbe hat in Florida, Texas und Washington beobachtet, dass in Bars wildfremde Leute den Soldaten ein Bier bezahlen.

Und jetzt noch ein Zitat vom Generalinspekteur der Bundeswehr Schneiderhahn, in einem Portrait meines Senders, des SWR, über ihn. Schneiderhahn über deutsche Soldaten in Afghanistan:

„Opferlämmer wollen sie nicht sein, sie wollen sich auch verteidigen.“

Drei Momentaufnahmen, die für sich sprechen und die man nicht kommentieren muss. Aber sie zeigen eines: es gibt unterschiedliche Facetten, Mosaiksteine, Verhaltensmuster, aber auch Erwartungshaltungen und Einschätzungen. Der Einsatz von Soldaten erfolgt nicht nur in unterschiedlichen Kulturen, sondern führt auch zu Reaktionen und Widersprüchen, die nur schwer steuerbar sind. 4 von 5 deutschen Parteien im BT unterstützen die Mission der Bundeswehr in

Afghanistan politisch, doch die Mehrheit der Bevölkerung lehnt den Einsatz ab. Und die Widerstände werden zwangsläufig größer, wenn sich ein Ereignis wie im September mit einem Luftschlag auf zwei entführte Tanklaster in der Provinz Kunduz wiederholen sollte, bei dem mindestens 130 Menschen ums Leben kamen…..Spätestens jetzt ist auch dem letzten hierzulande klar, dass die Mission in Afghanistan eben kein „Bad Kunduz“ ist, wie der Spitzname für die Provinz noch am Anfang des Einsatzes hieß, sondern plötzlich auch in Deutschland eine Debatte über Kollateralschäden entstanden ist.

Es ist in der Tat Zeit, nachzudenken. Nicht nur welche Rolle die Bundeswehr spielt, spielen möchte oder spielen muss, sondern welche Aufgaben sie überhaupt erfüllen kann. Ob Anspruch und Wirklichkeit deckungsgleich sind, welche Herausforderungen sich aus einer sich ständig verändernden Welt mit gewaltigen machttektonischen Verschiebungen ergeben, ob die Streitkräfte adäquat ausgerüstet sind, ob sie nur gefordert oder auch überfordert werden. Und was kann eine schrumpfende Armee mit schrumpfenden Ausbildungszeiten, schrumpfendem Budget und mit wachsenden Ansprüchen überhaupt noch leisten? Und: schicken wir die Streitkräfte in immer komplexere Konflikte nach dem Prinzip Wunschdenken und ignorieren dabei die Realitäten?

Herausforderungen:

Die Herausforderungen nehmen qualitativ und auch quantitativ zu. Ich nenne nur diese Schwerpunkte:

Einsätze im Rahmen von NATO und EU Missionen

Antiterrorkampf

Nation Building

Proliferationsgefahren

Sicherung von Rohstoffen und Handelswegen

Cyber-Warfare (Informationskrieg)

Klimaveränderungen und die Folgen

Neue Gefahrentrends: zerfallende Staaten, Mega Cities, Wasserknappheit, Wanderbewegungen

Diesem hohen Anspruch stehen ernüchternde Fakten gegenüber:

Bei Einsätzen der Streitkräfte ist die Ausrüstung unbefriedigend, die Mängel reichen von fehlenden Schutzbrillen und Westen bis hin zu Hubschraubern, gepanzerten Fahrzeuge oder unbemannten Aufklärern. Das sind ernstzunehmende Fragen, kein Jammern auf hohem Niveau.

Bestimmte Rüstungsprogramme leiden seit Jahren unter erheblichen Problemen. Der Verweis auf den A400 M soll reichen. Das Projekt ist 3 Jahre im Verzug, die Südafrikaner haben am 5. November ihren Auftrag für 8 Maschinen gestrichen, die Bundeswehr braucht diese Flugzeuge und bekommt sie nicht. Das Drama geht weiter.

Die Bundeswehr hat Strukturprobleme, man versucht sie, durch ständige Verbesserungsprozesse zu beseitigen. Doch das dauert, nächstes Problem:

Die Bundeswehr hat viele Probleme aber zuwenig Problemlöser. Managementqualitäten an der Spitze sind gefragt, aber das reicht nicht. Die Streitkräfte sind zu kopflastig, die Entscheidungswege unübersichtlich, zu lang, zu kompliziert, zu bürokratisch.

Die Bundeswehr ist unterfinanziert, der Verteidigungshaushalt hat Dimensionen erreicht, die in keiner Relation zu der Diversifikation der Aufgaben und der Streitkräfte stehen. Im Übrigen erfüllen wir unsere Verpflichtungen im Rahmen der NATO nicht.

Der Rückhalt der Bundeswehr in der Bevölkerung ist mangelhaft, man kann bestenfalls von „freundlichem Desinteresse“ sprechen und das bei Auslandseinsätzen, die mittlerweile seit 15 Jahren über die Bühne gehen. Der politische Rückhalt ist bedingt gegeben, nur die Linkspartei lehnt Einsatz der Bundeswehr im Ausland ab, doch eine rückhaltlose politische Unterstützung der Streitkräfte gibt es nicht.

Vernetzte Sicherheit ? Schönes Wort – gutes Konzept ! Doch wie sieht die Realität aus? NATO Vernetzung wird propagiert, aber: wir haben unterschiedliche Kommandostruktur, Munition, Kapazitäten, Hubschrauber, gepanzerte Fahrzeuge. Wie viele Helikopter oder Dingos einsatzfähig sind gehört zum Lackmustest der Realitäten.

Afghanistan ist die größte und schwierigste Mission der NATO und sie wird täglich gefährlicher. Deswegen will ich mich auf dieses Fallbeispiel fokussieren.

8 Jahre nach dem Sturz der Taliban, 8 Jahre Engagement und Kampfeinsatz am Hindukusch, nach 8 Jahren Suche nach Lösungen ist eine politische, militärische und strategische Bestandsaufnahme überfällig. Nicht nur, weil in den USA neu nachgedacht wird. Erste Veränderungen bahnen sich an.

Der neue Bundesverteidigungsminister zu Guttenberg spricht von kriegsähnlichen Zuständen in Afghanistan. Er spricht nicht nur aus, was alle längst wissen, sondern beendet auch die Charade seines Vorgängers Jung, der gebetsmühlenhaft wiederholte, es gebe keinen Krieg. Ich habe den Minister bei einer Tagung im Zentrum innere Führung gefragt, wie er diese Definition begründet: Antwort: Im Krieg werden keine Schulen und Krankenhäuser gebaut.

Diese Aussage spricht für sich. Ich will sie nicht kommentieren. Nur soviel. Mit semantischen Ausflüchten kann man die Realität nicht ausblenden, vor allem bei denen nicht, die sie tagtäglich erleben. Doch semantische Ausflüchte, aus welchen Gründen auch immer, kosten Glaubwürdigkeit, und Glaubwürdigkeit ist wichtiges Kapital, wenn man junge Menschen in Kriegsgebiete schickt.

Nun, die K-Frage ist mittlerweile geklärt, dem neuen Bundesverteidigungsminister sei dank Auch der Generalinspekteur weiß es schon länger, denn er antwortete im SWR auf die Frage: Führt man Krieg in Afghanistan? Zitat: ein Streit um Worte. Allerdings!

Der Kommandeur des Zentrums Innere Führung Brigadegeneral Alois Bach hat einmal den schlichten Satz geprägt: Soldaten fallen im Einsatz, das gehört zur Realität. Das ist die Realität!

Zum politischen Wunschdenken gehört dagegen die Diskussion, die ich vor vielen Jahren unter einer rot-grünen Regierung mit einem SPD Verteidigungsexperten hatte.

Ich stellte ihm die zugegeben provozierende Frage, wie lange er glaube, die politische Schönfärberei über die Lage in Afghanistan und vor allem die Linie durchhalten zu können, wonach der Auftrag der Bundeswehr „humanitärer Natur“ und ziviler Aufbau sei. Was mich schon damals auf die Palme brachte war nicht der berühmte Satz des damaligen Bundesverteidigungsministers Struck, dass deutsche Sicherheitsinteressen am Hindukusch verteidigt werden, dieser Satz war und ist durchaus richtig, wenn auch politisch umstritten, sondern das inszenierte Bild von Streitkräften als „THW in Uniform“ auf hochriskanten Missionen unterwegs.

Ohne die erheblichen Gefahren realisieren zu wollen oder sie in einer Art Stealth Taktik möglichst unter dem Teppich zu halten. Tausende deutscher Soldaten riskieren ihr Leben für unser Land, in Afghanistan, im Kosovo, am Horn von Afrika, OEF, ISAF, UNIFIL, Atalanta und es gibt Opfer, der Stand bis 4.11.09 beläuft sich auf 82 Tote, davon 24 bei KFOR im Kosovo und 36 Todesopfer beim ISAF Einsatz in Afghanistan…..(Total: 1440 Tote aus 26 Staaten, mehr als 700 US Soldaten) (Pakistan 14000 Tote seit 2008 durch Taliban Attacken) Und vergessen wir nicht die Verwundeten!

Oder jene, die mit posttraumatischen Belastungsstörungen zurückkehren, deren Zahl ist nach Angaben des Verteidigungsausschusses des deutschen Bundestags im ersten Halbjahr 09 um 35% auf 163 Fälle gestiegen. Von Anfang an wurde der Einsatz aber als humanitäre Mission ausgegeben, durch einen taktischen Winkelzug, der die eigenen Wunschvorstellungen zum Primat erhob, aber zu Realitätsverlust führte.

Der Winkelzug war die Doppelstrategie und Teilung des Afghanistaneinsatzes in 2 Mandate. OEF und ISAF, bei OEF wurde

gekämpft. ISAF galt als eher ruhige Aufbaumission, die Bundeswehrsoldaten als Schutztruppe im stabilen Norden, der Name spricht für sich: ISAF steht bekanntlich für „International Security Assistance Force“.

Diese Zweiteilung und Fokussierung auf ISAF, von der Politik gewollt, führte u.a. dazu, dass in den deutschen Medien über OEF Missionen nur am Rande berichtet und schließlich so getan wurde, als wären deutsche Soldaten an OEF Operationen gar nicht beteiligt. Das Gegenteil ist der Fall, KSK Kommando Spezialkräfte waren im OEF Einsatz, aber immer geheim, das geht soweit, dass die Bundesregierung nicht einmal bestätigen will, dass oder wann KSK Einheiten unterwegs sind. Diese Geheimniskrämerei kann man mit sicherheitsrelevanten Gründen rechtfertigen, muss man aber nicht. Briten und Amerikaner geben auch keine Koordinaten ihrer Einheiten heraus, verheimlichen aber keineswegs den Einsatz von SAS Special Forces oder Delta Force!

Neben KSK kamen übrigens auch dt. Fernmelder im umkämpften Süden des Landes zum Einsatz. Diese Doppelstrategie OEF und ISAF erfolgte aus politischen Gründen, die nachvollziehbar sind, aber sie hatte Folgen und führte zu exotischen Debatten:

Die Bundeswehr durfte und darf nur unter spezifischen Caveats eingreifen (eine politische Zwangsjacke).

Der Einsatz im Süden wurde mehrfach angeregt, diskutiert und immer wieder verworfen, das führte zu dem Eindruck, die Deutschen scheuten die Gefahr oder überließen die Drecksarbeit den anderen NATO Partnern.

Der AWACS Einsatz wurde diese   Woche nicht verlängert, weil es ihn gar nicht gab. Man hatte keine Überfluggenehmigungen erhalten. Also eine Phantomdebatte.

Ein bizarrer Streit entstand, ob deutsche Tornados mit Spezialkameras ihre Aufnahmen den Amerikanern zur Verfügung stellen dürfen oder dies unterbunden werden müsse, weil ja das Material für Luftangriffe verwendet werden könnte, ein Verstoß gegen die ISAF Mission ?

Die Grenzen zwischen OEF und ISAF wurden verwischt. OEF soll Terroristen bekämpfen, ISAF beim Aufbau helfen und gegen Aufständische (Taliban) vorgehen. Die Trennung von OEF und ISAF konnte aber von Anfang an nicht aufgehen, weil sich der Gegner nicht an diese Logik hält und das mit Absicht. Beweis: Entwicklung in Kunduz.

Auch bei der afghanischen Bevölkerung ist nicht mehr vermittelbar, wenn es zu zivilen Opfern kommt, ob OEF oder ISAF Truppen dafür verantwortlich sind.

Im Bundestag behaupteten mehrere Parlamentarier, die hohen Opferzahlen im Süden und Osten des Landes auf beiden Seiten seien durch die falsche, sprich zu aggressive OEF Strategie zu erklären. Würden Amerikaner und alle anderen NATO Partner die ISAF Strategie des zivilen Aufbaus verfolgen, wären die Probleme geringer.

Der Luftangriff mit mindestens 135 Toten bei Kunduz, angefordert von Oberst Georg Klein vor wenigen Wochen, hat dieser Legende ein Ende bereitet.

Wenn sie sich die Zahl deutscher Soldaten seit 2001 anschauen, stellen sie leicht fest, dass sie ständig, ja schleichend erhöht wurde. Doch die Fortschritte beim zivilen Aufbau sind mager. Hinzu kommen gravierende Defizite bei der Polizeiausbildung.

Offenbar sind beim Afghanistan Einsatz die Mängel und Defizite bei der Truppe unterschätzt worden. Nach einem internen Bericht von Brigadegeneral Jörg Vollmer gibt es schwere Mängel bei Stärke, Ausrüstung und Ausbildung, die das Einsatzziel in Afghanistan gefährden. Das deutsche Kontingent braucht mehr gepanzerte Fahrzeuge und Kampfhubschrauber.

Der Luftangriff am 4. September warf weitere gravierende Fragen auf: Sind deutsche Soldaten ohne Rechtssicherheit auf Auslandsmissionen? Was geschieht, wenn Fehler passieren?

Müssen deutsche Soldaten alleine fertig werden mit dpa Schlagzeilen vom 6. November als ein dpa Korrespondent formulierte: Ein Bundeswehroberst als Kriegsverbrecher? Warum gibt es keine zentrale Gerichtsbarkeit für Soldaten? Haben die Soldaten kein Recht, Richter und Staatsanwälte mit Spezialwissen zu verlangen? Es braucht Antworten!

Damit sind wir bei der aktuellen Lage-Einschätzung: Die militärische Situation eskaliert, in Afghanistan und Pakistan.

Die beinahe täglichen Terroranschläge beweisen, dass nicht nur der Westen, sondern auch die Taliban eine AfPak Strategie verfolgen. In Pakistan haben die Taliban spektakuläre Attacken lanciert, u.a. ein Angriff auf das militärische Hauptquartier der pakistanischen Armee in Peshawar und die Zentrale des pakistanischen Geheimdienstes ISI. Das ist starker Tobak und zeigt die Dimension der Gefahr. Anfang September wurde bei einem Selbstmordattentat in der afghanischen Provinz Laghman der stellvertretende Geheimdienstchef Abdullah Laghmani mit 22 anderen Personen getötet. Der ISAF Oberkommandierende General McChrystal hat in einem 66 Seiten starken Bericht im September gewarnt, dass in Afghanistan eine Niederlage droht, wenn es keine Truppenaufstockung gibt.

Kunduz, einst eine eher friedliche Region, ist Gefahrenzone und Kampfzone.

Dass jetzt Bundesverteidigungsminister zu Guttenberg die deutschen Soldaten um 120 Mann aufstockt ist ein klares Signal, dass die Lage nicht besser, sondern eher schlechter wird. Der Chef des deutschen Think Tanks Stiftung Wissenschaft und Politik Prof. Volker Perthes nennt die Debatte um Truppenaufstockung einen klaren Beweis, dass die Lage in Afghanistan „dramatisch“ ist, er hält auch weitere Ressourcen für unabdingbar. Mehr Soldaten und mehr ziviler Aufbau.

Umso erstaunlicher ist es, dass hierzulande in den Medien keine echte fundierte sachliche Bilanz oder Debatte stattfindet, wie man sich künftig besser aufstellen könnte. Und die Bundesregierung will erst die Afghanistan Konferenz Anfang nächsten Jahres abwarten, ehe man sich positioniert. Und die Entscheidung der USA. Also werfen wir einen Blick über den Atlantik.

Dort ist die Regierung Obama mitten in einer Überprüfung der eigenen Strategie. Und die Meinungen prallen voll aufeinander. Der Oberkommandierende General McChrystal fordert bis zu 40 000 Mann als Verstärkung, US Vizepräsident Biden hat sich für eine Drohnen Strategie ausgesprochen, also Aufgabe der bisherigen Strategie, Abzug der meisten Truppen und eine Art ferngesteuerter Anti-Terrorjagd mit gezielten Luftschlägen, um Topterroristen auszuschalten.

Eine dritte Option geht nach einem Bericht der Internat. Herald Tribune v. 29.10.09 davon aus, nur noch die 10 größten Städte, bzw. bevölkerungsreichsten Regionen sowie strategisch wichtige Verbindungen wie Highways oder das Helmand River Valley zu schützen, dafür andere Positionen komplett zu räumen. Weitere Elemente sind eine beschleunigte Ausbildung afghanischer Einheiten, mehr Wirtschaftshilfe und Sondierungen mit bestimmten Taliban Gruppierungen.

Die Befürworter einer Präsenz in Afghanistan samt Truppenverstärkung führen diese Argumente ins Feld:

Es braucht Zeit, Afghanistan ins 21. Jahrhundert zu führen und die afghanischen Sicherheitskräfte auszubilden

Ein Abzug würde den Taliban und al Kaida neue Rückzugsgebiete für künftige Terroranschläge eröffnen

Eine erneute Talibanisierung des Landes würde zu einer weiteren Destabilisierung anderer Nachbarstaaten wie Pakistan führen.

Veränderte Strategie muss darauf abzielen, die Bevölkerung zu schützen, die Infrastruktur des Landes zu stärken, Kollateralschäden zu vermeiden und moderate Kräfte zu stärken.

Die Afghanen jetzt im Stich zu lassen hätte verheerende psychologische Wirkung und bedeutet enormen Verlust der Glaubwürdigkeit der NATO.

Kritiker wie der US Botschafter in Kabul Karl Eikenberry warnen US Präsident Obama vor weiterer Truppenaufstockung, stattdessen solle man abwarten, ob Präsident Karsai Fortschritte im Kampf gegen Korruption und Missmanagement erzielt.

Auch der New York Times Kolumnist Thomas Friedman ist gegen mehr Soldaten, Begründung: Wir haben einfach nicht die notwendigen afghanischen Partner, die NATO Alliierten, die innenpolitische Unterstützung, die Finanzressourcen oder ein nationales Sicherheitsinteresse für eine anhaltende Politik des Nationenaufbaus in Afghanistan für die nächsten 20 Jahre. Friedman geht soweit, eine Verringerung der Truppen zu verlangen, auch wenn die Taliban dies als gewaltigen Sieg feiern würden.

Friedman glaubt, dass anschließend die verschiedenen Gruppen sich gegenseitig

bekämpfen, die pakistanische Armee dann erst recht die Taliban ins Visier nimmt und die Warlords sich das Land aufteilen werden. Bin Laden könne man dann per Drohne eliminieren. Und was hätte Amerika davon? Es würde nicht militärisch und finanziell ausbluten und nicht weiter politisch geschwächt. Das wäre eine Exitstrategie, die allerdings auch die psychologische Wirkung eines Abzugs verantworten müsste, die Wirkung, dass die Taliban und al Kaida den Sieg über den Westen als erstklassiges Propagandamaterial für die Rekrutierung neuer Kämpfer und Selbstmordattentäter nutzen würden – auch für weitere Angriffe gegen den Atomstaat Pakistan.

Der renommierte Präsident Emeritus des Council on Foreign Relations Leslie Gelb plädierte soeben in einem Artikel im „Time“ Magazin für „mehr Realismus“ und „Phantasien aufzugeben“. Eine stabile Nation in Afghanistan aufzubauen ist eine Phantasie, sagt Gelb, und schlägt 4 Punkte vor:

Keine Versuche, das Unmögliche zu erzwingen, eine effektive Regierung und mehr Sicherheitskräfte ist machbar, aber nicht die Ausrottung von Korruption oder Ineffizienz

Die Taliban zu spalten, mit gewissen Gruppen zu kooperieren, aber die Fanatiker entschieden bekämpfen

Wenn Verstärkung, dann 10 000 Mann, davon 5000 Ausbilder

Strategiewechsel: Containment und Deterrence, also Abschreckung und Eingrenzung, eine kleine Spezialtruppe im Land belassen, mit Raketenangriffen Bestrafungsaktionen lancieren und auf Allianzen mit Pakistan, Indien, China, Russland und sogar Iran setzen.

Gelb spricht sich explizit gegen ein Counterinsurgency Strategie aus, die er Treibsand nennt.

Ich will das alles nicht bewerten. Aber ich darf ihnen berichten, dass sich diese Einschätzungen wesentlich mit denen unserer Nachrichtendienste decken.

Wofür sich US Präsident Obama entscheiden wird, wissen sie bald selbst. Nach einem Bericht des Wall Street Journal vom Donnerstag läuft die Entscheidung darauf hinaus, eine Exitstrategie zu suchen, weil es nicht möglich ist, ohne eine solche Exit Strategie zehntausende Soldaten zusätzlich an den Hindukusch zu schicken. Dabei soll das Pentagon „Key milestones“ identifizieren, die es den Militärs ermöglichen, Truppen abzubauen, also eine Art Gleitpfad, um Richtung und Zeitrahmen für bestimmte Ziele abschätzen zu können.

Ich wünschte nur, wir hätten diese Debatte bei uns, nicht nur bei Spezialisten in Hinterzimmern. Denn Auslandseinsätze brauchen nicht nur den Segen des Parlaments, sondern auch die Unterstützung in der Bevölkerung, zumindest langfristig. Die Bundesregierung könnte eine eigene Strategie formulieren und debattieren, um sie dann innerhalb der NATO abzustimmen.

So warten wir ab, spielen erstmal wieder auf Zeit, Zeit, die uns zwischen den Fingern zerrinnt. Derweil schläft der Gegner nicht ein…und:

je länger der Einsatz und je höher die Opferzahlen, umso eher kämpfen wir mit einem zusätzlichen Problem: Dass uns die Einheimischen als Besatzer und nicht als Befreier wahrnehmen….

Komme zum Schluss: Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung ist von außen- und sicherheitspolitischen Themen fast nichts erwähnt, die FDP trumpfte mit der Forderung auf, die letzten US Atomwaffen von deutschem Territorium zu entfernen, ist das wirklich ein zentrales Thema ?

Ich glaube, es ist kein Zufall, dass außen- und sicherheitspolitische Themen so wenig Widerhall und Interesse finden, können sie 10 etablierte und renommierte deutsche Außenpolitiker im Bundestag nennen?

Wie ist das Misstrauen selbst der Kanzlerin gegenüber wichtigen Institutionen wie dem BND zu erklären, wieso schicken wir kein Spitzenpersonal zur NATO oder EU, wann hatten wir den letzten deutschen NATO Generalsekretär?

Ja, es hat eine Friedensdividende seit 1945 gegeben. Und nach dem Fall der Mauer eine zweite.

Ja, es ist gut, dass wir eine „Parlamentsarmee“ haben, dass nicht jeder sofort Hurra schreit, wenn es um Auslandseinsätze geht.

Aber  die Debatte um „soft power“, ein verkrampftes Verhältnis zu den eigenen Streitkräften und ein politischer Pazifismus haben dazu geführt, dass Soldaten, eine Armee und ihre Aufgaben per se „verdächtig“ erscheinen, Sicherheit in der Spaßgesellschaft als Randthema behandelt wird, und die Solidarität mit denen, die ihren Kopf hinhalten, verschwunden ist.

Das ist niederschmetternd.

Ein letztes Wort zu Afghanistan. Die Geschichte des Landes als „Friedhof für Imperien“ sollte uns Warnung sein. Darauf hat General David Petraeus, Chef des US Central Command schon auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar dieses Jahres hingewiesen. Er sprach auch von der größten Herausforderung.

Es gibt keine einfachen Lösungen, und optimale schon gar nicht.

Ein Land, das für seine fragmentierte Stammesstrukturen berüchtigt ist, für das Fehlen einer glaubhaften zentralen Autorität, für endemische Korruption, massiven Drogenanbau, Warlords und wechselnde gekaufte Loyalitäten, aber auch für einen unbändigen Stolz und Unabhängigkeit, das ist kein Platz für westliches Wunschdenken oder Phantomdebatten über Demokratie oder „Nation Building“.

Zu dieser komplizierten Matrix gesellen sich eine verheerende Präsidentenwahl, die den Amtsinhaber Glaubwürdigkeit und Legitimität „en gros“ gekostet hat und die mangelnde Unterstützung so mancher Alliierter. Auch in Afghanistan ist eine politische Lösung erforderlich, sie ist extrem schwierig, hängt von mehr Spielern ab als uns lieb sein kann und doch müssen wir es versuchen.

Ich danke Ihnen!

 

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