Die
Streitkräfte
zwischen Wunschdenken und politischer Realität
von Hans - Jürgen Maurus
/ SWR-ARD-HSB
Es
gilt das gesprochene Wort
Meine Damen und Herren,
die Militärs haben gesprochen,
es folgt ein Zivilist, noch dazu einer aus der
Medienzunft. Da Journalisten ähnlich schlechte
Umfragewerte wie Politiker erzielen, weiß ich, worauf
ich mich einlasse. Und wie mutig General Kopp ist, mich
einzuladen. Denn ich gelte als ein Beobachter, der nicht
lange um den heißen Brei redet. Und wenn jetzt die eine
oder andere Bemerkung ihr Missfallen erregen sollte,
erlauben Sie mir die Bitte: Ich bin nur der Botschafter,
der die Depesche überbringt. Beziehungsweise die
Medienperspektive aus der Sicht des politischen
Beobachters in der Bundeshauptstadt. Ich möchte ein paar
Fragen aufwerfen, die einer Antwort bedürfen, ob man es
will oder nicht.
Ich will mit zwei
kleinen Anekdoten beginnen:
Im vergangenen August
stürmten Taliban in der Provinz Kunduz nachts eine
lokale Polizeistation und erschossen den jüngeren Bruder
des Gouverneurs. Seither macht der Gouverneur die
Bundeswehr für den Tod des Bruders verantwortlich; weil
die Deutschen keinen Hubschrauber geschickt hätten, als
der Schwerverletzte verblutete. Er habe angerufen und
man habe ihm gesagt, dass man eine solche Mission nicht
machen könne, wird Mohammed Omar im Wall Street Journal
Anfang der Woche zitiert, doch die Deutschen gehen
nachts nicht gerne raus. Von deutscher Seite hieß es,
man habe nicht mehr tun können, um den Mann zu retten.
Das Opfer sei eines von mehreren Komplikationen in einer
schwierigen Mission.
Zweite Anekdote spielt
in Berlin. Nicholas Kulish, ein Reporter der New York
Times schrieb am Montag in einem Artikel mit der
Schlagzeile: Deutschlands Soldaten kämpfen alleine: „Ich
habe oft am Berliner Hauptbahnhof die einsame Gestalt
eines deutschen Soldaten in Uniform gesehen. Niemand
hielt an, um ihm für seinen Einsatz zu danken oder ihn
zu fragen, ob er schon in Afghanistan war. In Kunduz
erzählt ein deutscher Soldat dem US Reporter, dass er
auf einer Zugreise nach Berlin auf einem Bahnhof von
Mitreisenden angemacht wurde, er solle sich unsichtbar
machen, sonst würde er verprügelt. „Das hat mich
schockiert“, sagt der Bundeswehrangehörige, „man schaut
auf uns runter“. Der Wehrbeauftragte des Bundestags
Reinhold Robbe hat in Florida, Texas und Washington
beobachtet, dass in Bars wildfremde Leute den Soldaten
ein Bier bezahlen.
Und jetzt noch ein Zitat
vom Generalinspekteur der Bundeswehr Schneiderhahn, in
einem Portrait meines Senders, des SWR, über ihn.
Schneiderhahn über deutsche Soldaten in Afghanistan:
„Opferlämmer wollen sie
nicht sein, sie wollen sich auch verteidigen.“
Drei Momentaufnahmen,
die für sich sprechen und die man nicht kommentieren
muss. Aber sie zeigen eines: es gibt unterschiedliche
Facetten, Mosaiksteine, Verhaltensmuster, aber auch
Erwartungshaltungen und Einschätzungen. Der Einsatz von
Soldaten erfolgt nicht nur in unterschiedlichen
Kulturen, sondern führt auch zu Reaktionen und
Widersprüchen, die nur schwer steuerbar sind. 4 von 5
deutschen Parteien im BT unterstützen die Mission der
Bundeswehr in
Afghanistan politisch,
doch die Mehrheit der Bevölkerung lehnt den Einsatz ab.
Und die Widerstände werden zwangsläufig größer, wenn
sich ein Ereignis wie im September mit einem Luftschlag
auf zwei entführte Tanklaster in der Provinz Kunduz
wiederholen sollte, bei dem mindestens 130 Menschen ums
Leben kamen…..Spätestens jetzt ist auch dem letzten
hierzulande klar, dass die Mission in Afghanistan eben
kein „Bad Kunduz“ ist, wie der Spitzname für die Provinz
noch am Anfang des Einsatzes hieß, sondern plötzlich
auch in Deutschland eine Debatte über Kollateralschäden
entstanden ist.
Es ist in der Tat Zeit,
nachzudenken. Nicht nur welche Rolle die Bundeswehr
spielt, spielen möchte oder spielen muss, sondern welche
Aufgaben sie überhaupt erfüllen kann. Ob Anspruch und
Wirklichkeit deckungsgleich sind, welche
Herausforderungen sich aus einer sich ständig
verändernden Welt mit gewaltigen machttektonischen
Verschiebungen ergeben, ob die Streitkräfte adäquat
ausgerüstet sind, ob sie nur gefordert oder auch
überfordert werden. Und was kann eine schrumpfende Armee
mit schrumpfenden Ausbildungszeiten, schrumpfendem
Budget und mit wachsenden Ansprüchen überhaupt noch
leisten? Und: schicken wir die Streitkräfte in immer
komplexere Konflikte nach dem Prinzip Wunschdenken und
ignorieren dabei die Realitäten?
Herausforderungen:
Die Herausforderungen
nehmen qualitativ und auch quantitativ zu. Ich nenne nur
diese Schwerpunkte:
Einsätze im Rahmen von
NATO und EU Missionen
Antiterrorkampf
Nation Building
Proliferationsgefahren
Sicherung von
Rohstoffen und Handelswegen
Cyber-Warfare
(Informationskrieg)
Klimaveränderungen und
die Folgen
Neue Gefahrentrends:
zerfallende Staaten, Mega Cities, Wasserknappheit,
Wanderbewegungen
Diesem hohen Anspruch
stehen ernüchternde Fakten gegenüber:
Bei Einsätzen der
Streitkräfte ist die Ausrüstung unbefriedigend, die
Mängel reichen von fehlenden Schutzbrillen und Westen
bis hin zu Hubschraubern, gepanzerten Fahrzeuge oder
unbemannten Aufklärern. Das sind ernstzunehmende Fragen,
kein Jammern auf hohem Niveau.
Bestimmte
Rüstungsprogramme leiden seit Jahren unter erheblichen
Problemen. Der Verweis auf den A400 M soll reichen. Das
Projekt ist 3 Jahre im Verzug, die Südafrikaner haben am
5. November ihren Auftrag für 8 Maschinen gestrichen,
die Bundeswehr braucht diese Flugzeuge und bekommt sie
nicht. Das Drama geht weiter.
Die Bundeswehr hat
Strukturprobleme, man versucht sie, durch ständige
Verbesserungsprozesse zu beseitigen. Doch das dauert,
nächstes Problem:
Die Bundeswehr hat viele
Probleme aber zuwenig Problemlöser. Managementqualitäten
an der Spitze sind gefragt, aber das reicht nicht. Die
Streitkräfte sind zu kopflastig, die Entscheidungswege
unübersichtlich, zu lang, zu kompliziert, zu
bürokratisch.
Die Bundeswehr ist
unterfinanziert, der Verteidigungshaushalt hat
Dimensionen erreicht, die in keiner Relation zu der
Diversifikation der Aufgaben und der Streitkräfte
stehen. Im Übrigen erfüllen wir unsere Verpflichtungen
im Rahmen der NATO nicht.
Der Rückhalt der
Bundeswehr in der Bevölkerung ist mangelhaft, man kann
bestenfalls von „freundlichem Desinteresse“ sprechen und
das bei Auslandseinsätzen, die mittlerweile seit 15
Jahren über die Bühne gehen. Der politische Rückhalt ist
bedingt gegeben, nur die Linkspartei lehnt Einsatz der
Bundeswehr im Ausland ab, doch eine rückhaltlose
politische Unterstützung der Streitkräfte gibt es nicht.
Vernetzte Sicherheit ?
Schönes Wort – gutes Konzept ! Doch wie sieht die
Realität aus? NATO Vernetzung wird propagiert, aber: wir
haben unterschiedliche Kommandostruktur, Munition,
Kapazitäten, Hubschrauber, gepanzerte Fahrzeuge. Wie
viele Helikopter oder Dingos einsatzfähig sind gehört
zum Lackmustest der Realitäten.
Afghanistan ist die
größte und schwierigste Mission der NATO und sie wird
täglich gefährlicher. Deswegen will ich mich auf dieses
Fallbeispiel fokussieren.
8 Jahre nach dem Sturz
der Taliban, 8 Jahre Engagement und Kampfeinsatz am
Hindukusch, nach 8 Jahren Suche nach Lösungen ist eine
politische, militärische und strategische
Bestandsaufnahme überfällig. Nicht nur, weil in den USA
neu nachgedacht wird. Erste Veränderungen bahnen sich
an.
Der neue
Bundesverteidigungsminister zu Guttenberg spricht von
kriegsähnlichen Zuständen in Afghanistan. Er spricht
nicht nur aus, was alle längst wissen, sondern beendet
auch die Charade seines Vorgängers Jung, der
gebetsmühlenhaft wiederholte, es gebe keinen Krieg. Ich
habe den Minister bei einer Tagung im Zentrum innere
Führung gefragt, wie er diese Definition begründet:
Antwort: Im Krieg werden keine Schulen und Krankenhäuser
gebaut.
Diese Aussage spricht
für sich. Ich will sie nicht kommentieren. Nur soviel.
Mit semantischen Ausflüchten kann man die Realität nicht
ausblenden, vor allem bei denen nicht, die sie
tagtäglich erleben. Doch semantische Ausflüchte, aus
welchen Gründen auch immer, kosten Glaubwürdigkeit, und
Glaubwürdigkeit ist wichtiges Kapital, wenn man junge
Menschen in Kriegsgebiete schickt.
Nun, die K-Frage ist
mittlerweile geklärt, dem neuen
Bundesverteidigungsminister sei dank Auch der
Generalinspekteur weiß es schon länger, denn er
antwortete im SWR auf die Frage: Führt man Krieg in
Afghanistan? Zitat: ein Streit um Worte. Allerdings!
Der Kommandeur des
Zentrums Innere Führung Brigadegeneral Alois Bach hat
einmal den schlichten Satz geprägt: Soldaten fallen im
Einsatz, das gehört zur Realität. Das ist die Realität!
Zum politischen
Wunschdenken gehört dagegen die Diskussion, die ich vor
vielen Jahren unter einer rot-grünen Regierung mit einem
SPD Verteidigungsexperten hatte.
Ich stellte ihm die
zugegeben provozierende Frage, wie lange er glaube, die
politische Schönfärberei über die Lage in Afghanistan
und vor allem die Linie durchhalten zu können, wonach
der Auftrag der Bundeswehr „humanitärer Natur“ und
ziviler Aufbau sei. Was mich schon damals auf die Palme
brachte war nicht der berühmte Satz des damaligen
Bundesverteidigungsministers Struck, dass deutsche
Sicherheitsinteressen am Hindukusch verteidigt werden,
dieser Satz war und ist durchaus richtig, wenn auch
politisch umstritten, sondern das inszenierte Bild von
Streitkräften als „THW in Uniform“ auf hochriskanten
Missionen unterwegs.
Ohne die erheblichen
Gefahren realisieren zu wollen oder sie in einer Art
Stealth Taktik möglichst unter dem Teppich zu halten.
Tausende deutscher Soldaten riskieren ihr Leben für
unser Land, in Afghanistan, im Kosovo, am Horn von
Afrika, OEF, ISAF, UNIFIL, Atalanta und es gibt Opfer,
der Stand bis 4.11.09 beläuft sich auf 82 Tote, davon 24
bei KFOR im Kosovo und 36 Todesopfer beim ISAF Einsatz
in Afghanistan…..(Total: 1440 Tote aus 26 Staaten, mehr
als 700 US Soldaten) (Pakistan 14000 Tote seit 2008
durch Taliban Attacken) Und vergessen wir nicht die
Verwundeten!
Oder jene, die mit
posttraumatischen Belastungsstörungen zurückkehren,
deren Zahl ist nach Angaben des Verteidigungsausschusses
des deutschen Bundestags im ersten Halbjahr 09 um 35%
auf 163 Fälle gestiegen. Von Anfang an wurde der Einsatz
aber als humanitäre Mission ausgegeben, durch einen
taktischen Winkelzug, der die eigenen
Wunschvorstellungen zum Primat erhob, aber zu
Realitätsverlust führte.
Der Winkelzug war die
Doppelstrategie und Teilung des Afghanistaneinsatzes in
2 Mandate. OEF und ISAF, bei OEF wurde
gekämpft. ISAF galt als
eher ruhige Aufbaumission, die Bundeswehrsoldaten als
Schutztruppe im stabilen Norden, der Name spricht für
sich: ISAF steht bekanntlich für „International Security
Assistance Force“.
Diese Zweiteilung und
Fokussierung auf ISAF, von der Politik gewollt, führte
u.a. dazu, dass in den deutschen Medien über OEF
Missionen nur am Rande berichtet und schließlich so
getan wurde, als wären deutsche Soldaten an OEF
Operationen gar nicht beteiligt. Das Gegenteil ist der
Fall, KSK Kommando Spezialkräfte waren im OEF Einsatz,
aber immer geheim, das geht soweit, dass die
Bundesregierung nicht einmal bestätigen will, dass oder
wann KSK Einheiten unterwegs sind. Diese
Geheimniskrämerei kann man mit sicherheitsrelevanten
Gründen rechtfertigen, muss man aber nicht. Briten und
Amerikaner geben auch keine Koordinaten ihrer Einheiten
heraus, verheimlichen aber keineswegs den Einsatz von
SAS Special Forces oder Delta Force!
Neben KSK kamen übrigens
auch dt. Fernmelder im umkämpften Süden des Landes zum
Einsatz. Diese Doppelstrategie OEF und ISAF erfolgte aus
politischen Gründen, die nachvollziehbar sind, aber sie
hatte Folgen und führte zu exotischen Debatten:
Die Bundeswehr durfte
und darf nur unter spezifischen Caveats eingreifen (eine
politische Zwangsjacke).
Der Einsatz im Süden
wurde mehrfach angeregt, diskutiert und immer wieder
verworfen, das führte zu dem Eindruck, die Deutschen
scheuten die Gefahr oder überließen die Drecksarbeit den
anderen NATO Partnern.
Der AWACS Einsatz wurde
diese Woche nicht verlängert, weil es ihn gar nicht
gab. Man hatte keine Überfluggenehmigungen erhalten.
Also eine Phantomdebatte.
Ein bizarrer Streit
entstand, ob deutsche Tornados mit Spezialkameras ihre
Aufnahmen den Amerikanern zur Verfügung stellen dürfen
oder dies unterbunden werden müsse, weil ja das Material
für Luftangriffe verwendet werden könnte, ein Verstoß
gegen die ISAF Mission ?
Die Grenzen zwischen OEF
und ISAF wurden verwischt. OEF soll Terroristen
bekämpfen, ISAF beim Aufbau helfen und gegen
Aufständische (Taliban) vorgehen. Die Trennung von OEF
und ISAF konnte aber von Anfang an nicht aufgehen, weil
sich der Gegner nicht an diese Logik hält und das mit
Absicht. Beweis: Entwicklung in Kunduz.
Auch bei der
afghanischen Bevölkerung ist nicht mehr vermittelbar,
wenn es zu zivilen Opfern kommt, ob OEF oder ISAF
Truppen dafür verantwortlich sind.
Im Bundestag behaupteten
mehrere Parlamentarier, die hohen Opferzahlen im Süden
und Osten des Landes auf beiden Seiten seien durch die
falsche, sprich zu aggressive OEF Strategie zu erklären.
Würden Amerikaner und alle anderen NATO Partner die ISAF
Strategie des zivilen Aufbaus verfolgen, wären die
Probleme geringer.
Der Luftangriff mit
mindestens 135 Toten bei Kunduz, angefordert von Oberst
Georg Klein vor wenigen Wochen, hat dieser Legende ein
Ende bereitet.
Wenn sie sich die Zahl
deutscher Soldaten seit 2001 anschauen, stellen sie
leicht fest, dass sie ständig, ja schleichend erhöht
wurde. Doch die Fortschritte beim zivilen Aufbau sind
mager. Hinzu kommen gravierende Defizite bei der
Polizeiausbildung.
Offenbar sind beim
Afghanistan Einsatz die Mängel und Defizite bei der
Truppe unterschätzt worden. Nach einem internen Bericht
von Brigadegeneral Jörg Vollmer gibt es schwere Mängel
bei Stärke, Ausrüstung und Ausbildung, die das
Einsatzziel in Afghanistan gefährden. Das deutsche
Kontingent braucht mehr gepanzerte Fahrzeuge und
Kampfhubschrauber.
Der Luftangriff am 4.
September warf weitere gravierende Fragen auf: Sind
deutsche Soldaten ohne Rechtssicherheit auf
Auslandsmissionen? Was geschieht, wenn Fehler passieren?
Müssen deutsche Soldaten
alleine fertig werden mit dpa Schlagzeilen vom 6.
November als ein dpa Korrespondent formulierte: Ein
Bundeswehroberst als Kriegsverbrecher? Warum gibt es
keine zentrale Gerichtsbarkeit für Soldaten? Haben die
Soldaten kein Recht, Richter und Staatsanwälte mit
Spezialwissen zu verlangen? Es braucht Antworten!
Damit sind wir bei der
aktuellen Lage-Einschätzung: Die militärische Situation
eskaliert, in Afghanistan und Pakistan.
Die beinahe täglichen
Terroranschläge beweisen, dass nicht nur der Westen,
sondern auch die Taliban eine AfPak Strategie verfolgen.
In Pakistan haben die Taliban spektakuläre Attacken
lanciert, u.a. ein Angriff auf das militärische
Hauptquartier der pakistanischen Armee in Peshawar und
die Zentrale des pakistanischen Geheimdienstes ISI. Das
ist starker Tobak und zeigt die Dimension der Gefahr.
Anfang September wurde bei einem Selbstmordattentat in
der afghanischen Provinz Laghman der stellvertretende
Geheimdienstchef Abdullah Laghmani mit 22 anderen
Personen getötet. Der ISAF Oberkommandierende General
McChrystal hat in einem 66 Seiten starken Bericht im
September gewarnt, dass in Afghanistan eine Niederlage
droht, wenn es keine Truppenaufstockung gibt.
Kunduz, einst eine eher
friedliche Region, ist Gefahrenzone und Kampfzone.
Dass jetzt
Bundesverteidigungsminister zu Guttenberg die deutschen
Soldaten um 120 Mann aufstockt ist ein klares Signal,
dass die Lage nicht besser, sondern eher schlechter
wird. Der Chef des deutschen Think Tanks Stiftung
Wissenschaft und Politik Prof. Volker Perthes nennt die
Debatte um Truppenaufstockung einen klaren Beweis, dass
die Lage in Afghanistan „dramatisch“ ist, er hält auch
weitere Ressourcen für unabdingbar. Mehr Soldaten und
mehr ziviler Aufbau.
Umso erstaunlicher ist
es, dass hierzulande in den Medien keine echte fundierte
sachliche Bilanz oder Debatte stattfindet, wie man sich
künftig besser aufstellen könnte. Und die
Bundesregierung will erst die Afghanistan Konferenz
Anfang nächsten Jahres abwarten, ehe man sich
positioniert. Und die Entscheidung der USA. Also werfen
wir einen Blick über den Atlantik.
Dort ist die Regierung
Obama mitten in einer Überprüfung der eigenen Strategie.
Und die Meinungen prallen voll aufeinander. Der
Oberkommandierende General McChrystal fordert bis zu 40
000 Mann als Verstärkung, US Vizepräsident Biden hat
sich für eine Drohnen Strategie ausgesprochen, also
Aufgabe der bisherigen Strategie, Abzug der meisten
Truppen und eine Art ferngesteuerter Anti-Terrorjagd mit
gezielten Luftschlägen, um Topterroristen auszuschalten.
Eine dritte Option geht
nach einem Bericht der Internat. Herald Tribune v.
29.10.09 davon aus, nur noch die 10 größten Städte, bzw.
bevölkerungsreichsten Regionen sowie strategisch
wichtige Verbindungen wie Highways oder das Helmand
River Valley zu schützen, dafür andere Positionen
komplett zu räumen. Weitere Elemente sind eine
beschleunigte Ausbildung afghanischer Einheiten, mehr
Wirtschaftshilfe und Sondierungen mit bestimmten Taliban
Gruppierungen.
Die Befürworter einer
Präsenz in Afghanistan samt Truppenverstärkung führen
diese Argumente ins Feld:
Es braucht Zeit,
Afghanistan ins 21. Jahrhundert zu führen und die
afghanischen Sicherheitskräfte auszubilden
Ein Abzug würde den
Taliban und al Kaida neue Rückzugsgebiete für künftige
Terroranschläge eröffnen
Eine erneute
Talibanisierung des Landes würde zu einer weiteren
Destabilisierung anderer Nachbarstaaten wie Pakistan
führen.
Veränderte Strategie
muss darauf abzielen, die Bevölkerung zu schützen, die
Infrastruktur des Landes zu stärken, Kollateralschäden
zu vermeiden und moderate Kräfte zu stärken.
Die Afghanen jetzt im
Stich zu lassen hätte verheerende psychologische
Wirkung und bedeutet enormen Verlust der
Glaubwürdigkeit der NATO.
Kritiker wie der US
Botschafter in Kabul Karl Eikenberry warnen US Präsident
Obama vor weiterer Truppenaufstockung, stattdessen solle
man abwarten, ob Präsident Karsai Fortschritte im Kampf
gegen Korruption und Missmanagement erzielt.
Auch der New York Times
Kolumnist Thomas Friedman ist gegen mehr Soldaten,
Begründung: Wir haben einfach nicht die notwendigen
afghanischen Partner, die NATO Alliierten, die
innenpolitische Unterstützung, die Finanzressourcen oder
ein nationales Sicherheitsinteresse für eine anhaltende
Politik des Nationenaufbaus in Afghanistan für die
nächsten 20 Jahre. Friedman geht soweit, eine
Verringerung der Truppen zu verlangen, auch wenn die
Taliban dies als gewaltigen Sieg feiern würden.
Friedman glaubt, dass
anschließend die verschiedenen Gruppen sich gegenseitig
bekämpfen, die
pakistanische Armee dann erst recht die Taliban ins
Visier nimmt und die Warlords sich das Land aufteilen
werden. Bin Laden könne man dann per Drohne eliminieren.
Und was hätte Amerika davon? Es würde nicht militärisch
und finanziell ausbluten und nicht weiter politisch
geschwächt. Das wäre eine Exitstrategie, die allerdings
auch die psychologische Wirkung eines Abzugs
verantworten müsste, die Wirkung, dass die Taliban und
al Kaida den Sieg über den Westen als erstklassiges
Propagandamaterial für die Rekrutierung neuer Kämpfer
und Selbstmordattentäter nutzen würden – auch für
weitere Angriffe gegen den Atomstaat Pakistan.
Der renommierte
Präsident Emeritus des Council on Foreign Relations
Leslie Gelb plädierte soeben in einem Artikel im „Time“
Magazin für „mehr Realismus“ und „Phantasien
aufzugeben“. Eine stabile Nation in Afghanistan
aufzubauen ist eine Phantasie, sagt Gelb, und schlägt 4
Punkte vor:
Keine Versuche, das
Unmögliche zu erzwingen, eine effektive Regierung und
mehr Sicherheitskräfte ist machbar, aber nicht die
Ausrottung von Korruption oder Ineffizienz
Die Taliban zu
spalten, mit gewissen Gruppen zu kooperieren, aber die
Fanatiker entschieden bekämpfen
Wenn Verstärkung, dann
10 000 Mann, davon 5000 Ausbilder
Strategiewechsel:
Containment und Deterrence, also Abschreckung und
Eingrenzung, eine kleine Spezialtruppe im Land
belassen, mit Raketenangriffen Bestrafungsaktionen
lancieren und auf Allianzen mit Pakistan, Indien,
China, Russland und sogar Iran setzen.
Gelb spricht sich
explizit gegen ein Counterinsurgency Strategie aus, die
er Treibsand nennt.
Ich will das alles nicht
bewerten. Aber ich darf ihnen berichten, dass sich diese
Einschätzungen wesentlich mit denen unserer
Nachrichtendienste decken.
Wofür sich US Präsident
Obama entscheiden wird, wissen sie bald selbst. Nach
einem Bericht des Wall Street Journal vom Donnerstag
läuft die Entscheidung darauf hinaus, eine Exitstrategie
zu suchen, weil es nicht möglich ist, ohne eine solche
Exit Strategie zehntausende Soldaten zusätzlich an den
Hindukusch zu schicken. Dabei soll das Pentagon „Key
milestones“ identifizieren, die es den Militärs
ermöglichen, Truppen abzubauen, also eine Art Gleitpfad,
um Richtung und Zeitrahmen für bestimmte Ziele
abschätzen zu können.
Ich wünschte nur, wir
hätten diese Debatte bei uns, nicht nur bei Spezialisten
in Hinterzimmern. Denn Auslandseinsätze brauchen nicht
nur den Segen des Parlaments, sondern auch die
Unterstützung in der Bevölkerung, zumindest langfristig.
Die Bundesregierung könnte eine eigene Strategie
formulieren und debattieren, um sie dann innerhalb der
NATO abzustimmen.
So warten wir ab,
spielen erstmal wieder auf Zeit, Zeit, die uns zwischen
den Fingern zerrinnt. Derweil schläft der Gegner nicht
ein…und:
je länger der Einsatz
und je höher die Opferzahlen, umso eher kämpfen wir mit
einem zusätzlichen Problem: Dass uns die Einheimischen
als Besatzer und nicht als Befreier wahrnehmen….
Komme zum Schluss: Im
Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung ist von
außen- und sicherheitspolitischen Themen fast nichts
erwähnt, die FDP trumpfte mit der Forderung auf, die
letzten US Atomwaffen von deutschem Territorium zu
entfernen, ist das wirklich ein zentrales Thema ?
Ich glaube, es ist kein
Zufall, dass außen- und sicherheitspolitische Themen so
wenig Widerhall und Interesse finden, können sie 10
etablierte und renommierte deutsche Außenpolitiker im
Bundestag nennen?
Wie ist das Misstrauen
selbst der Kanzlerin gegenüber wichtigen Institutionen
wie dem BND zu erklären, wieso schicken wir kein
Spitzenpersonal zur NATO oder EU, wann hatten wir den
letzten deutschen NATO Generalsekretär?
Ja, es hat eine
Friedensdividende seit 1945 gegeben. Und nach dem Fall
der Mauer eine zweite.
Ja, es ist gut, dass wir
eine „Parlamentsarmee“ haben, dass nicht jeder sofort
Hurra schreit, wenn es um Auslandseinsätze geht.
Aber die Debatte um
„soft power“, ein verkrampftes Verhältnis zu den eigenen
Streitkräften und ein politischer Pazifismus haben dazu
geführt, dass Soldaten, eine Armee und ihre Aufgaben per
se „verdächtig“ erscheinen, Sicherheit in der
Spaßgesellschaft als Randthema behandelt wird, und die
Solidarität mit denen, die ihren Kopf hinhalten,
verschwunden ist.
Das ist
niederschmetternd.
Ein letztes Wort zu
Afghanistan. Die Geschichte des Landes als „Friedhof für
Imperien“ sollte uns Warnung sein. Darauf hat General
David Petraeus, Chef des US Central Command schon auf
der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar dieses
Jahres hingewiesen. Er sprach auch von der größten
Herausforderung.
Es gibt keine einfachen
Lösungen, und optimale schon gar nicht.
Ein Land, das für seine
fragmentierte Stammesstrukturen berüchtigt ist, für das
Fehlen einer glaubhaften zentralen Autorität, für
endemische Korruption, massiven Drogenanbau, Warlords
und wechselnde gekaufte Loyalitäten, aber auch für einen
unbändigen Stolz und Unabhängigkeit, das ist kein Platz
für westliches Wunschdenken oder Phantomdebatten über
Demokratie oder „Nation Building“.
Zu dieser komplizierten
Matrix gesellen sich eine verheerende Präsidentenwahl,
die den Amtsinhaber Glaubwürdigkeit und Legitimität „en
gros“ gekostet hat und die mangelnde Unterstützung so
mancher Alliierter. Auch in Afghanistan ist eine
politische Lösung erforderlich, sie ist extrem
schwierig, hängt von mehr Spielern ab als uns lieb sein
kann und doch müssen wir es versuchen.
Ich danke Ihnen!
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